Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Zuweisungen

 

„Eine Reise auf die griechische Insel Karpathos ... wurde für Cornelia Mittendorfer Ausgangspunkt einer Bildobjekt-Serie, die sich mit den Strukturformeln (Umberto Eco) der besonderen Beschneidung von Ohren der Schafe an diesem nach wie vor von archaischen Riten geprägten Ort befaßt. (...)

 

In diese, durch den oft erdigen Ton der Farbe fast rauh, und einem sandig-steinigen Boden verwandt erscheinende Textur wird ein links oder rechts auf der Bildfläche eingeschriebenes Zeichen für das beschnittene Ohr eines zukünftigen Opfertieres so verbunden, dass Umrißlinie und malerischer Grund Korrespondenz aufnehmen, die eigentlich zwischen den beiden „Modi“ ganz ungewöhnlich ist. Die Allusion zu den Böden der griechischen Insel ist beabsichtigt, da diese von den Bewohnern mit Farbe bearbeitet, über Besitzverhältnisse Auskunft geben und auch ein Teil der Zeichensprache der Inselbewohner für Cornelia Mittendorfer darstellt, die jenes Geheimnis verloschener Hieroglyphen vorübergehend enthüllt.

 

Die Klärung der Zeichen dutzender variabler Einschnitte der Ohren fand sie in einem Buch vor Ort: die Spaltungen, Stumpfungen, Lochungen und Federungen der Ohren mit tieferen, breiteren oder seitenspezifischen Schnitten haben Bezüge zu Heiligen und deren Namenstagen, für die das jeweilige Tier zur Schlachtung vorgesehen ist. (...)

 

Weniger die religiöse Ikonographie interessiert, als der Verweis auf den Tod und die ikonische Kenntnisnahme durch die Bevölkerung. Wer solche Codes entschlüsseln kann, ist Teil einer Gemeinschaft, die sich durch lebendige Bilder verständigt. Die Sprache des Einschneidens von Schafsohren verweist also auf die in unserer technisierten Welt verlorenen Spuren archaischer Gesellschaften und alte geistige Bezüge lebendiger Anwendung sprechender Zeichen.“

 

Auszug aus: „Strukturen einer unbekannten Sprache“ von Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Text zur Ausstellung „Zuweisungen“, 22. 6. - 3. 7. 1998, Galerie Lang, 1010 Wien.