Elke Krasny zu >Ein Le(e.h.)rstuhl für Käthe Leichter< | Katalog


Ich erinnere mich.

Reflexiv.

Wer erinnert an sie?

Singular. Plural.

 

Elke Krasny

 

Ich erinnere mich.

Wer erinnert an sie?

 

Meine erste intellektuelle Operation ist die eines Transfers. Aus der scheinbar einfachen, festlegenden, konventionalisierten und selbstverständlich verwendeten grammatikalischen Dimension werde ich bedeutsame Dimensionen für das Verständnis des Raums zwischen historiografischer und künstlerischer Erinnerungsproduktion freilegen. Denkschritt für Denkschritt werden die reflexiven, singularen und pluralen Fragestellungen aus dem Titel herausgeschält und in die Arbeitsweisen von historiografischer und künstlerischer Erinnerungsproduktion hineinprojiziert und hineingeschrieben.

 

Die grammatikalischen Dimensionen eines reflexiven Verbs - 'Ich erinnere mich' - und eines Akkusativs - 'Wer erinnert an sie?' - der, und dies bleibt, so man nur diesen Fragesatz hört oder liest, offen und liegt daher in der Interpretation der Hörenden oder Lesenden, sowohl im Singular wie auch im Plural verwendet worden sein könnte, werden als zu befragende semantische in ihren bedeutenden Unterschieden entfaltet. Es wird der Versuch unternommen, jenen hegemonial erzeugten und prägend wirksamen kulturellen Voreingestelltheiten nachzugehen, deren Kritik sich immer, und immer wieder aufs Neue, als Notwendigkeit herausstellt, so wir uns darauf einlassen, die Voreingestelltheiten als solche in den Blick zu nehmen.

 

Kritik ist das unabgeschlossene Projekt, das sich als Forderung an die historiografische wie die künstlerische Erinnerungsproduktion stellt, so diese Erinnerungsproduktionen es für sich in Anspruch nehmen, reflexiv zu werden und Singular und Plural in werdendes Denken münden zu lassen.

 

Die beunruhigende Frage, welche Reflexionen wir uns erlauben, wenn wir beginnen, unsere Einblicke, die wir in die gegenwärtige Erinnerungsproduktion von Vergangenheit nehmen, in Frage zu stellen, ist jene Frage, die zu einer Fülle von weiteren Fragen führt. In den Raum jener zu stellenden Fragen werde ich die Struktur der komplexen Beziehungen zu dem, was Erinnern genannt wird, entlang des Reflexiven, des Singulars und des Plurals entfalten und diesen fragenden Raum als Raum zwischen künstlerischer und historiografischer Erinnerungsproduktion denken.

 

Reflexiv. Singular. Plural.

 

Ein prüfendes, vergleichendes, sich auf sich selbst immer wieder zurückwerfendes, auf sich selbst zurückgeworfenes Nachdenken wird reflexiv genannt. Dieses nachdenkende und nachdenkliche Nachdenken, das durch die Prozesse des Erinnerns hindurch wachgehalten wird, kann ich mir vorstellen als sperrigen Gegenpart, gebrochenen Widerhall, ungefügigen Widerstand, der die scheinbare Unaufhaltsamkeit von hegemonialer Erinnerungskultur aufzubrechen vermag.

 

Jenes nachdenkende Nachdenken, das im Erinnern aktiviert wird, erinnert mich. Es erinnert mich an Fragen, die an die Vergangenheit zu richten sind. Es erinnert mich an Fragen, die an die Erinnerungsproduktion von Vergangenheit zu richten sind. Es erinnert mich, dass Vergangenheit produziert wird. Es erinnert mich, dass es unterschiedliche Arten gibt, sich zu erinnern. Es erinnert mich, dass die Geschichte der Historiografie ihre Weisen des Erinnerns produziert hat. Es erinnert mich, dass die Geschichte der Kunst ihre Weisen des Erinnerns produziert hat. Es lässt mich denken, dass es eine Erinnerung daran gibt, dass eine andere Vergangenheit möglich ist. Dieses Erinnertwerden vervielfacht die Komplexität. Es lässt mich denken, dass es Erinnerungen daran gibt, dass andere Vergangenheiten möglich gewesen sein werden. Ich kann mir vorstellen, dass die Beziehungen zwischen den Erinnerungen und den Vergangenheiten in Bewegung geraten sind, dass sie auch zukünftig immer wieder in Bewegung geraten müssen, um kritisch zu bleiben.

 

In diese Beziehung zwischen Erinnerungsproduktionen, Erinnerungen und Vergangenheiten füge ich jene widerständigen, widerhallenden, ungefügigen, sperrigen Bewegungen des Reflektierens, des nachdenklichen Nachdenkens, das uns von allen Gewissheiten fernzuhalten sucht und dadurch das Nachdenken für die Zukunft öffnet.

Nicht nur Historiografie und Kunst, allgemein gedacht, bedürfen dieser widerständigen Bewegungen, sondern auch die Erinnerungsproduktion der Frauengeschichtsschreibungen, der feministischen Geschichtsschreibungen, der queer-feministischen Geschichtsschreibungen sowie die Erinnerungsproduktion der Kunst, der feministischen Kunst, der queer-feministischen Kunst bedarf des Bewusstseins um die Fragwürdigkeiten von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Verläufen dieses 'Ich erinnere mich' und 'Wer erinnert an sie?'. Erinnert zu werden, dass es Gründe dafür gibt, wie wir uns woran, an wen, erinnern, ist zentrale Aufgabe jener Reflexivität innerhalb von Erinnerungsproduktion, die sich ihrer eigenen Kritik nicht entzieht.

 

Dies ist der Zeitpunkt, sich an die Dimension von Singular und Plural in der Frage 'Wer erinnert an sie?' zu erinnern und diese in die bereits entfaltete Reflexionsbeziehung einzubeziehen. Die Herstellung eines phantasmatischen, kollektiven, homogenisierenden, Differenz zum Verschwinden bringenden Wir ist fragwürdig. Nicht minder fragwürdig ist der Singular der historiografischen Re-Produktion einer Version historischer Ereignisse, die Ich nur als die Eine kennt: die Erste, die Pionierin, die Heldin. Die historiografische wie die künstlerische Produktion von Frauenbewegungsgeschichte bedarf des Reflexiven, um plural zu werden, plural zu bleiben, immer wieder kritisch ins Plurale aufzubrechen.

 

Nicht nur findet Erinnerungsproduktion aus der Disziplin der Geschichtsschreibung, aus der Perspektive der feministischen Geschichtsschreibung heraus statt, sondern auch die Kunst, vor allem die feministische Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat ihre eigenen Formen und Formate der Erzeugung von Erinnerung an Geschichte und in Geschichte entwickelt. Ich nenne hier nun keine spezifischen Positionen, da ich den Raum für die kritische Erinnerungsarbeit der Lesenden offen halten möchte.

 

Aktivistisch. Feministisch. Intellektuell. Jüdisch. Sozialistisch.

 

Das re-flektierende Verhältnis zwischen spezifischen Arten und Weisen der Erinnerungsproduktion mit Mitteln des Historiografischen und Mitteln des Künstlerischen ist die Frage, die mitzunehmen ist, um über die Arbeit von Cornelia Mittendorfer über Käthe Leichter in der Spannung zwischen Erinnerungsproduktion des Historiografischen und Erinnerungsproduktion des Künstlerischen nachzudenken. Eine Geschichte der Reflexion projiziert auf den jeweilig anderen Modus der Produktion von Erinnerung, die kritische Blicke wirft in beide Richtungen und aus beiden Richtungen, aus der künstlerischen Produktion kommend auf die historiografische und aus der historiografischen Produktion kommend auf die künstlerische, konstituiert einen fragilen, unbeständigen, beweglichen, verletzlichen und (noch) disziplinenlosen Raum des Nachdenkens über die Verhältnisse der Produktion von Erinnerung. In diesen fragilen Raum führt die Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin Cornelia Mittendorfer und der Historikerin Sabine Lichtenberger rund um ihre Erinnerungsproduktion an Käthe Leichter. Gemeinsam erzeugen sie Produktionen des Erinnerns, die eröffnen, dass Käthe Leichter, die Aktivistin, die Feministin, die Intellektuelle, die Jüdin, die Sozialistin, ein Frauennetzwerk erzeugte. Dieses Netzwerk wurde freigelegt.

 

Zukünftig werde ich mich erinnern können, dass es zwei gegeben hat, Cornelia Mittendorfer und Sabine Lichtenberger, die an sie erinnert haben, an Käthe Leichter, Singular, an das Frauennetzwerk, Plural. Zugleich werde ich mich erinnern können, dass die Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin und der Historikerin jenen fragilen Raum eröffnet hat, in dem die unbeständige Geschichte der Reflexionen der Verhältnisse des Erinnerns noch nicht festgeschrieben ist. Damit meine ich jenen gedachten und äußerst fragilen, widerständigen Raum, jenen immer wieder fordernden und immer wieder an diese Forderungen erinnernden Raum, der sich reflexiv, singular und plural zwischen den Erinnerungsproduktionen des Historiografischen und den Erinnerungsproduktionen des Künstlerischen eröffnet und in Bewegung bleibt.

 

Ich erinnere mich.

Jener fragile, noch nicht disziplinierte, widerständige, fragend bleibende Raum zwischen der Erinnerungsproduktion des Historiografischen und der Erinnerungsproduktion des Künstlerischen, hat eine reflexive Beziehung erzeugt.

Dieser Raum eröffnet die Möglichkeit, all die Fragen zu stellen, die ich versucht habe, in diesem Text als Fragen zu etablieren. Das hat eine reflexive Beziehung erzeugt. Wer erinnert an sie? An die Fragen? Plural? Wer erinnert an sie? Singular. An Käthe Leichter. Wer erinnert an sie? Plural. An das Frauennetzwerk. Auch das hat eine reflexive Beziehung erzeugt.

Erinnerungen erzeugen reflexive Beziehung. Diese sind nicht unveränderlich. Beziehungen verändern die Erinnerungen. Erinnerungen verändern die Beziehungen. Wie die Veränderungen Teil der Beziehungen werden und in die Reflexionen wiederum einfließen, das ist gedachter, imaginierter, ersehnter Teil jenes Raums zwischen der Erinnerungsproduktion des Historiografischen und des Künstlerischen, der seine eigenen kritischen Geschichten noch projektiv schreiben wird können.

 

Ich glaube, mich erinnert zu haben, ich glaube, mich zu erinnern, dass eine andere Vergangenheit möglich ist. Ich erinnere mich, dass andere Vergangenheiten möglich sind.

 

Ich erinnere mich, dass es viele Produktionen gibt, an sie zu erinnern. Wer wird sich an sie erinnern?

 

Literatur:

 

Hauch, Gabriella 2007, Rezension zu: Vittorelli, Natascha: Frauenbewegung um 1900. Über Triest nach Zagreb. Wien 2007, in H-Soz-u-Kult, 14.12.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-4-218>.

 

Hacker, Hanna 1998, Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgression, Taunus, Königstein.

 

De Haan, Francisca; Daskalova, Krassimira; Loutfi, Anna (ed.) 2006, A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, CEU Press, Budapest.

 

Lewis, Jill 1991, Fascism and the Working Class in Austria, 1918-1934: The Failure of Labour in the First Republic, Berg, Oxford.

 

Freidenreich, Harriet Pass 2002, Female, Jewish, and Educated: The Lives of Central European University Women, Indiana University Press, Bloomington.

 

Pollock,Griselda 2003, Vision and Difference, Feminism, Femininity and the Histories of Art, Routledge, London.

 

Rose, Alison 2008, Jewish Women in Fin de Siècle Vienna, University of Texas Press, Austin.

 

Schwartz, Agatha 2010, Gender and Modernity in Central Europe. The Austro-Hungarian Monarchy and its Legacy, University of Ottawa Press, Ottawa.

 

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Elke Krasny ist Kulturtheoretikerin, Kuratorin und Autorin. www.elkekrasny.at