Wer erinnert wen an wen, an was, wie und warum?

 

In meiner Arbeit über Käthe Leichter setze ich mich mit Fragen des Nachdenkens, der Erinnerung, des Gedenkens und möglicher Formen dafür mit interdisziplinärem und kooperativem Ansatz auseinander.

 

Dabei konzentriere ich mich auf die wissenschaftliche Seite und die außerordentlichen Vernetzungsqualitäten dieser vielschichtigen Sozialwissenschafterin und Politikerin, deren Wirken durch die Ermordung 1942 durch die Nazis so dramatisch unterbrochen wurde. Eine Professur hat sie nie bekommen.

 

Ich wollte mit kritischem Blick auf die gängigen „politics of memory“ einen realen und einen imaginären Raum schaffen, um über sie und ihre Arbeit aus heutiger Perspektive nachdenken und diskutieren zu können, der auch zeigen soll, wie bedeutende Menschen immer Teil eines sozialen Umfeldes sind.

 

Meine ästhetischen Entscheidungen zur Gestaltung des symbolischen Universitätslehrstuhls (Dimensionen, Linearität, Material) habe ich auf meine Vorstellung gegründet, was KL entsprochen haben könnte, soweit ich das aus der verfügbaren Literatur erschließen konnte.

 

Durch die Verwendung einer Originalausgabe ihrer bahnbrechenden und mithilfe ihres Netzwerks realisierten Publikation (des Handbuchs der Frauenarbeit in Österreich aus 1930) für das Beziehen von Tisch und Stuhl habe ich einen realen Erinnerungsspeicher mit der von mir geschaffenen Trägerstruktur verbunden. Die Oberfläche habe ich mit Wachs anstatt von Lack überzogen, da dieses natürliche Material die Seiten des Buches gleichsam „atmen“ lässt, eine Qualität, die dem Fortleben des gespeicherten Wissens entspricht.

 

KL hat nicht allein gearbeitet. Auch meine Arbeit an dem Projekt hat zu einer Erweiterung meines Netzwerks geführt: Den Anstoß gab eine Publikation über KL, die mir eine Kollegin geschenkt hat. Sodann habe ich andere Frauen zur Mitarbeit eingeladen. Historikerin Sabine Lichtenberger hat mit mir gemeinsam alle verfügbaren Archive ausgewertet, um KL's Netzwerk erstmals in großem Umfang zu definieren. Wir haben als Protagonistinnen 165 Frauen identifiziert. Teile davon sind als Autorinnen im Handbuch der Frauenarbeit angeführt. Lichtenberger hat auch Daten dieser Frauen recherchiert, soweit eruierbar. Ein erster Schritt, dem noch viele Forschungsschritte folgen müssten.

 

Zur Visualisierung des imaginären Aktionsraumes des Netzwerkes habe ich mich für die Form eines Index entschieden: Da die Beziehungen der Frauen zu KL und untereinander aufgrund der Datenlage nur unterschiedlich genau zu bestimmen waren, schien mir die Form eines Index adäquat. Die Frauen damals konnten sicher alle nähen. Deshalb habe ich mich für die Verwendung von soft materials entschieden. Da es unmöglich ist, eine Frau durch einen bestimmten Stoffstreifen zu charakterisieren, habe ich eine abstrakte Zuordnung gewählt. Bei der Beschaffung der 165 unterschiedlichen Stoffstreifen habe ich auf mein Netzwerk zurückgegriffen: in der Auswahl der Textilien spiegelt sich mein persönliches Netzwerk mit den je unterschiedlichen, auch geografischen Anknüpfungspunkten wieder. Um die Zuordnung der Streifen zu den Namen deutlich zu machen, habe ich ein Buch angefertigt, in das ich wie in ein Musterbuch Beispiele der Stoffstreifen eingenäht habe. Eingefasst ist der 5,5 Meter lange Index mit einem Satinband in der Farbe von KL's Augen – eine poetische Referenz. Bei der Eröffnung der Ausstellung in der Arbeiterkammer habe ich Yasmin Hafedh aka Yasmo eingeladen, den Index als Spoken Word Performance vorzutragen.

 

Um den realen Raum des Nachdenkens am Le(e.h.)rstuhl in Szene zu setzen, habe ich die damalige KL-Gastprofessorin Geraldine Forbes eingeladen zu einer Lecture Performance, die in meinem Studio stattgefunden hat. GF setzte sich mit dem Fokus auf die Änderung des kollektiven Gedächtnisses durch meine Arbeit und mit den besonderen Schwierigkeiten des Wiedererfassens der Geschichte von Frauen auseinander. Ihre Überlegungen hat sie verschriftlicht. Sie sind Teil der Publikation. Eine Fotoarbeit ist anläßlich der Performance entstanden.

 

Elke Krasny habe ich eingeladen, sich als Theoretikerin mit Erinnerung und Reflexivität auseinanderzusetzen. Sie untersucht in ihrem Essay den fragilen, noch nicht disziplinierten Raum zwischen historiografischer und künstlerischer Erinnerungsproduktion.

 

Ein Interview mit der italienischen Künstlerin Margherita Abbozzo über meine Motivation und meine Überlegungen, biografische Daten KL's, gemeinsam mit Lichtenberger formulierte Kurzbiografien zum Index und Lichtenbergers Überlegungen als fachspezifische Historikerin runden die zweisprachige Publikation ab.

 

Die Verflechtung unterschiedlicher Zeit-, Bedeutungs- und Handlungsebenen (Originalseiten, Objekte, die in den Fotografien auftauchen, Doppelbelichtung der Fotografien, meine sozialen Beziehungen, die in die Beschaffung des Materials einfließen, der kooperative Ansatz etc.) erweitert den Prozess des Erinnerns. Erinnerung allein betrifft nur die Vergangenheit. Ich erachte es für wichtig, eine Bedingung für das Hin- und Herpendeln der Erinnerung zu schaffen.

In meinem Verständnis sind die Arbeiten/Texte der von mir eingeladenen Frauen aus anderen Disziplinen als eigenständige Arbeiten doch integrativer Bestandteil des ganzen Projektes. Ohne sie wäre der Gedankenraum des Projekts unvollständig. Es ist der Versuch, den äußerst schwierigen Bereich der Interdisziplinarität teilweise auch aus einem künstlerisch-kuratorischen Blickwinkel kooperativ zu füllen.

 

Erinnerung und Wahrnehmung sind Themen, die sich durch meine gesamte Arbeit ziehen (s. v. a. auch green line_evocative of an archeology of desperation and desire, langjährige Recherche und Fotoessay über Fragen von Wahrnehmung und Abbildbarkeit traumatischer Ereignisse am Beispiel Zypern, sowie die Fortentwicklung dieser Arbeit in a loop, a line, a limbo, die sich mit der Schaffung eines Raums jenseits der „bloßen“ Erinnerung auseinandersetzt, sowie

wissen.sapere, ein Fotoessay über Wissens- und Gedächtniswelten in Rom).

 

Wien 2024

Who reminds whom of whom, of what, how and why?

 

In my work on Käthe Leichter, I deal with questions of reflection, remembrance, commemoration and possible forms of remembrance with an interdisciplinary and co-operative approach.

 

In doing so, I focus on the academic side and the extraordinary networking qualities of this multi-faceted social scientist and politician, whose work was so dramatically interrupted by her murder by the Nazis in 1942. She never received a professorship.

 

With a critical eye on the current "politics of memory", I wanted to create a real and an imaginary space to reflect on and discuss her and her work from today's perspective, which should also show how important people are always part of a social environment.

 

I based my aesthetic choices for the design of the symbolic university chair (dimensions, linearity, material) on my idea of what might have corresponded to KL, as far as I could tell from the available literature.

 

By using an original edition of her groundbreaking publication (the Handbook of Women's Work in Austria from 1930), which was realised with the help of her network, for covering the table and chair, I have combined a real memory archive with the support structure I have created. I coated the surface with wax instead of varnish, as this natural material allows the pages of the book to "breathe", as it were, a quality that corresponds to the survival of the stored knowledge.

 

KL did not work alone. My work on the project has also led to an expansion of my network: The impetus came from a publication about KL that a colleague gave me as a gift. I then invited other women to collaborate. Historian Sabine Lichtenberger worked with me to analyse all available archives in order to define KL's network on a large scale for the first time. We identified 165 women as protagonists. Some of them are listed as authors in the Handbook of Women's Work. Lichtenberger has also researched data on these women, as far as it can be ascertained. A first step that should be followed by many more research steps.

 

To visualise the imaginary action space of the network, I opted for the form of an index: Since the relationships of the women to KL and to each other could only be determined with varying degrees of accuracy due to the data situation, the form of an index seemed adequate to me. The women at that time could certainly all sew. That's why I decided to use soft materials. As it is impossible to characterise a woman by a specific strip of fabric, I chose an abstract classification.

When sourcing the 165 different strips of fabric, I drew on my network: the selection of textiles reflects my personal network with its various, also geographical, connections. To make the assignment of the strips to the names clear, I made a book in which I sewed in examples of the fabric strips like in a pattern book. The 5.5 metre long index is edged with a satin ribbon in the colour of KL's eyes - a poetic reference. At the opening of the exhibition at the Arbeiterkammer, I invited Yasmin Hafedh aka Yasmo to perform the index as a spoken word performance.

 

To stage the real space of reflection at the Le(e.h.)rstuhl, I invited the then KL Visiting Professor Geraldine Forbes to a lecture performance that took place in my studio. GF focussed on changing collective memory through my work and the particular difficulties of recapturing women's history. She has written down her reflections. They are part of the publication. A photographic work was created on the occasion of the performance.

 

I invited Elke Krasny to deal with memory and reflexivity as a theorist. In her essay, she examines the fragile, as yet undisciplined space between historiographical and artistic memory production.

 

An interview with the Italian artist Margherita Abbozzo about my motivation and my reflections, KL's biographical data, short biographies formulated together with Lichtenberger for the index and Lichtenberger's reflections as a specialised historian round off the bilingual publication.

 

The interweaving of different levels of time, meaning and action (original pages, objects that appear in the photographs, double exposure of the photographs, my social relationships that flow into the procurement of the material, the co-operative approach, etc.) expands the process of remembering. Memory alone only concerns the past. I consider it important to create a condition for memory to oscillate back and forth.

 

In my understanding, the works/texts of the women I invited from other disciplines are an integral part of the whole project as independent works. Without them, the thought space of the project would be incomplete. It is an attempt to fill the extremely difficult area of interdisciplinarity from an artistic and curatorial perspective in a co-operative way.

  

Memory and perception are themes that run through my entire work (see above all green line_evocative of an archeology of desperation and desire, a long-term research and photo essay on questions of perception and the depictability of traumatic events using the example of Cyprus, as well as the further development of this work in a loop, a line, a limbo, which deals with the creation of a space beyond "mere" memory, and wissen.sapere, a photo essay on worlds of knowledge and memory in Rome).

 

Vienna 2024