Draw a straight line and (don‘t) follow it

zur Ausstellung Arrows of Time von Cornelia Mittendorfer und Judith Neunhäuserer, im basement, 2020

 

1960 schreibt der amerikanische Komponist und Minimal-Musiker La Monte Young seine Composition 1960 # 10 to Bob Morris. Die Partitur besteht aus einem einzigen Satz: „Draw a straight line and follow it.“ Wir wissen nicht, wie Bob Morris dieses Stück aufführte, wohl kennen wir aber die Interpretation durch Nam June Paik: er taucht seinen Kopf in einen Eimer voll Tinte und benutzt seinen Haarschopf als Pinsel, um eine gerade Linie auf eine auf dem Boden ausgebreitete Papierbahn zu malen. Paik nannte dies wiederum Zen for Head.

 

Die Ausstellung hat den Titel Arrows of Time. Die Kunst des Bogenschießens hat mit Zen zu tun, und ein fliegender Pfeil folgt vermeintlich auch einer geraden Linie. Vermeintlich deshalb, weil sich bei näherer Betrachtung herausstellt, dass diese Linie gekrümmt ist. Daran ist die Schwerkraft schuld.

 

Die Ausstellung hat den Titel Arrows of Time. Deshalb ist es legitim, sich vorerst ein paar Gedanken über die Zeit zu machen. Unsere abendländische („moderne“) Vorstellung von Zeit ist eine lineare. Wir stellen uns die Zeit als Strecke vor, und je nach Befindlichkeit bewegen wir uns entweder entlang dieser Zeitlinie oder die Zeit bewegt sich durch uns hindurch. Die Zeitachse verläuft also von links nach rechts oder von vorne nach hinten. Letzteres wird in einer Erzählung sehr anschaulich beschrieben, in der ein kleiner Junge gemeinsam mit seiner alternden Mutter eine Zugreise macht. Er sitzt in Fahrtrichtung, seine Mutter ihm gegenüber. „Ich schaue in die Zukunft“, schreibt er, „während meine Mutter in die Vergangenheit blickt.“

 

Siri Hustvedt hat in ihrem Essay Erinnern in der Kunst: das Horizontale und das Vertikale[1] (auf den sich Cornelia Mittendorfer bezieht) sehr eindrücklich beschrieben, dass sich die Vorstellung einer Zeit oder Narration, die sich von links nach rechts entfaltet mit unserer Leserichtung zu tun hat, was dazu führt, dass handlungs- und machtbetonte Figuren in Kunstwerken gewöhnlich auf der linken Seite des Bildraums erscheinen.

 

Aber Zeit kann auf viele verschiedene Arten vorgestellt werden. Norbert Elias sagt in seinem Spätwerk Über die Zeit[2], dass das Zeitempfinden verschiedener Gesellschaften immer sehr stark mit den Beziehungen dieser Gesellschaften zur Welt an sich zu tun haben und so Zeit immer relational gesehen werden muss und nicht außerhalb des Kulturellen (als etwas „Absolutes“) existiert. Als Beispiel zitiert er aus der Erzählung Der Pfeil Gottes von Chinua Achembe, die eine animistische (afrikanische) Dörfergemeinschaft an der Schwelle zur christlichen (europäischen) Zivilisation beschreibt. Die Menschen in diesen Dörfern leben ohne strukturierte Zeitvorstellung, denn es gibt den Priester, der die Aufgabe hat, die Zeit „zu verwalten“, den Dorfbewohner*innen zu sagen, wann die beste Zeit zu säen, zu ernten, auf die Jagd zu gehen wäre. Das wichtigste dabei ist die Mitteilung, wann der neue Mond auftaucht, denn er zeigt sich vorerst nur dem Priester. Obwohl die Mondphasen zyklisch sind, wird in dieser Kultur der neue Mond tatsächlich jedesmal als neuer begriffen, als Person, die man begrüßen, der man freundlich begegnen und die man gnädig stimmen muss. Hier haben wir es mit einer komplexen Zeitauffassung zu tun, die unsere gängige Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehörig durcheinander bringt. Denn sie ist weder linear noch zyklisch.

 

Die Ausstellung Arrows of Time ist aufgespannt zwischen den beiden Polen der Vor-Stellung und der In-Spiration. Arthur Schopenhauer definiert in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung[3] Vorstellung als mentale Funktion, die für die Modalität des Erkennens eines erkennenden Lebewesens verantwortlich ist[4]; der Wille hingegen ist das kosmische Prinzip der Existenz an sich, der „blinde, ziellose Drang zu leben“. Alle Form von Materie ist Teil dieses Prinzips. Die Vorstellung (die per se individuell ist) hindert uns daran, die Welt, wie sie ist, in allem (und nicht nur in uns selbst) zu erkennen (was, am Rande bemerkt, laut Schopenhauer zu Egoismus führt). Nur im Verneinen unseres individuellen Willens gibt es einen Ausweg aus der Welt als reiner Vorstellung. Ein Weg temporärer individueller Willensverneinung ist aber die Kunst.

 

Dem gegenüber steht die Inspiration, konstruiert aus in = hinein und spirare = hauchen, atmen. Inspiration definiert sich einerseits als „schöpferischer Einfall“, andererseits (medizinisch) als „das Einatmen“. Gemeinsam ist beiden, dass es keine mentale Funktion des Erkennens/ Erlebens im Sinn einer Vor-Stellung ist, sondern etwas, das in mich hineinkommt, in mich eindringt. Vor allem bin ich daran körperlich beteiligt, man kann es durchaus pneumatisch nennen. Pneuma (altgriechisch πνεῦμα) hat mit (lateinisch) animus zu tun. Pneuma ist laut den Stoikern ein stoffliches und zugleich geistiges Prinzip, das den gesamten – als Lebewesen vorgestellten – Kosmos durchdringt und dessen Organisation bewirkt. Womit wir wiederum beim Animismus gelandet wären.

 

Der konkrete Ausstellungsraum im basement wird von zwei virtuellen Räumen überlagert, in die sich die beiden Künstlerinnen begeben haben, um diese (und sich selbst) zu erfahren. Interessanterweise handelt es sich dabei um zwei Wüsten. Judith Neunhäuserer begibt sich in die Antarktis, die größte Wüste dieser Erde, als Stipendiatin des Alfred Wegener Instituts, in deren Forschungsstation. Cornelia Mittendorfer beschäftigt sich mit der Vulkanwüste La Graciosa, der kleinsten Kanaren-Insel – allerdings nur in ihrer Vor-Stellung. Denn real befindet sie sich in Olib, einer im Kontrast dazu fruchtbaren und blühenden kroatischen Insel.

 

Wüsten sind irgendwie tabulae rasae. Wüsten sind Gegenden, die (noch) nicht utilitaristisch be-zeichnet sind. In diese beginnen sich nun die beiden Künstlerinnen, verschiedentlich, einzuzeichnen, und zwar beide mit Linien. Neunhäuserer produziert dabei einen echten Zeit-Pfeil: ein Glasobjet, das einem Bohrkern nachempfunden ist, wie sie die Forschung aus dem ewigen Eis extrahiert. Diese, oft viele Meter langen Artefakte, sind interessante Linien in beide Richtungen: einerseits in die Vergangenheit, da man sich daran wie an einem Maßstab  Zentimeter für Zentimeter vortasten kann, um (Klima-, Wetter-, Umwelt-)Bedingungen verschiedener Epochen abzulesen, andererseits ist es auch ein Zeitstrahl in die Zukunft, da man Auswertungen des Bohrkerns für die Errechnung von Klimamodellen der Zukunft verwendet.

 

Mittendorfer wiederum be-zeichnet ihre (vorgestellte) Wüste mit Linien, die sie im Rhythmus des Ein- und Ausatmens auf Papier setzt. Nebeneinander (= zyklisch), in beide Richtungen (= Brechung der dominanten Leserichtung) und zunehmend gekrümmt (= nichtlinear). Wenn sie allerdings an der Wand der Galerie weiterzeichnet, stößt sie auf Widerstand. Ein Rendering einer konkreten Vorstellung von Welt holt sie zurück aus der reinen Inspiration.

 

Während Mittendorfer ihre zwei Orte (den nahen und den fernen) sozusagen im konkreten Raum inhaliert (und so zusammen bringt), eignet sich Neunhäuserer ihren Ort performativ an. Sie irrt in rotem Overall durch ein garagenähnliches Environment im ewigen Eis, und inspiriert von wissenschaftlichen Messungen fotografiert sie (mit Blitzlicht) dieses. Eine Überwachungskamera mit Fisheye-Linse filmt sie dabei von oben. Diese (distanzierte) Außensicht entspricht Schopenhauers temporärer individueller Willensverneinung. Dass die Jpeg-Kompression der Kamera den Schneetreiben-Effekt verstärkt und so darauf hinweist, dass laut Abraham A. Moles weißes Rauschen informationstheoretisch maximale Information bei minimaler Redundanz bedeutet, ist nur ein Nebeneffekt dieser Anordnung.

 

Denn in der medialen Repräsentanz der beiden Bildschirme in der Ausstellung kommt Literatur ins Spiel, und hier kippt der erzählende in den erzählten Raum. Bei Mittendorfer ist es der eingangs erwähnte Text von Hustvedt über  räumliche Handlungstendenzen, von der Künstlerin gelesen, den wir hören, während wir auf ein Gewirr von Linien schauen und vorerst vergeblich versuchen zu enträtseln, was diese nun darstellen könnten. Bei Neunhäuserer ist es Edgar Allen Poes Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket[5], der sich aufdrängt, wenn man die Fisheye-Aufnahme der Forschungsstation betrachtet. Sie erinnert an den Malstrøm, einen gigantischen Strudel in der Antarktis, in den Pym gezogen wird, während er im Stürzen eine gewaltige übermenschliche Gestalt erblickt, keinen “Menschengezeugten”, mit einer Haut von “makellosem Weiß des Schnees”. Poes Vision taucht 1931 in H.P.Lovecrafts Berge des Wahnsinns[6] wieder auf, wo eine Forschungsexpedition Fossilien sagenumwobener sogenannter Schoggoten im Eis findet. Fußabdrücke krallenbewehrter Außerirdischer. Neunhäuserer hat sie in komplizierten Verfahren gerendert und in den Ausstellungsraum gebracht.

 

Sowie ein tentakelbewehrtes Wesen, das atmet und flüstert, und in langsam abwechselnden, trägen Wellen, hin- und hergehend, die Soundscapes beider Installationen vereint. Mittendorfer sagt, ihre Zeichnungen hätten viel mit Hören zu tun.

 

Hören.

 

Atmen.

 

Draw a straight line and (don’t) follow it.

 

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[1]    Siri Hustvedt, Erinnern in der Kunst: Das Horizontale und das Vertikale, in: Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen, Essays über Kunst, Geschlecht und Geist, Rowohlt, 2019

[2]    Norbert Elias, Über die Zeit, Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Suhrkamp, 1988

[3]    Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung,  Bibliographischen Institut & F. A. Brockhaus, 1819

[4]    Somit kann man nur eine jeweilige materielle Manifestation der Welt wahrnehmen. Ein moderner Ausdruck dafür wäre „Rendering“.

[5]    Edgar Allen Poe, Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, Walter Verlag (Original: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket, 1838)

[6]    H.P.Lovecraft, Berge des Wahnsinns, Suhrkamp, 1997 (Original: At the Mountains of Madness, 1936)