Margherita Abbozzo zu >Ein Le(e.h.)rstuhl für Käthe Leichter< | Katalog
Zum “Le(e.h.)rstuhl”. Ein Gespräch unter Frauen durch Zeit und Raum.
Von Margherita Abbozzo
Margherita Abbozzo: Käthe Leichter ist eine viel-gesichtige und sehr interessante Persönlichkeit, deren Arbeit im heutigen politischen und historischen Kontext als sehr zeitgemäß anzusehen ist, wenn auch ihr Name nicht so bekannt ist wie er sein sollte. Ihr Leben und ihre Ideen sind Ausgangspunkt deines vielschichtigen Kunstprojektes. Was hat dich zu dieser Arbeit inspiriert?
Cornelia Mittendorfer: Käthe Leichter (geb. 1895 in Wien und 1942 in der Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ermordet) war Sozialwissenschafterin, Sozialpolitikerin und Gewerkschafterin. Sie war Leiterin des ersten Referates für Frauenfragen in der Arbeiterkammer Wien. Ihre soziologische Arbeit ist immer noch beeindruckend, dennoch hat sie weder auf politischer noch auf wissenschaftlicher Ebene die Anerkennung erhalten, die ihr zustünde. Durch ihre Verhaftung und Ermordung wurde ihre Arbeit auf dramatische Weise unterbrochen. Ihre Persönlichkeit hatte viele Facetten. Mein interdisziplinärer Ansatz behandelt insbesondere ihre wissenschaftliche Seite und ihre außerordentlichen Networking-Qualitäten.
M.A.: Wie ist diese Arbeit entstanden?
C.M.: Ich wusste schon immer von ihr durch meine Tätigkeit an der Wiener Arbeiterkammer. Eine Kollegin gab mir ein Geschenk – einen Tagungsband eines Symposiums, das anlässlich ihres 60. Todestages veranstaltet wurde. Als ich gefragt wurde, an einer Ausstellungsreihe zum 100. internationalen Frauentag teilzunehmen, entschloss ich mich, ein Projekt zu Ehren von Käthe Leichter zu entwerfen und zu realisieren.
M.A.: Gibt es andere, auch vielleicht persönlichere, Faktoren außer den historischen und soziologischen Aspekten ihrer Arbeit, die dich berührt haben?
C.M.: Ja, die gibt es. Als Person schien sie eine sehr moderne und mutige Frau gewesen zu sein. Sie war sehr belesen und eine der allerersten Frauen in Österreich mit einem Doktortitel in Politikwissenschaft, dennoch war sie niemals so bekannt wie sie es zu sein verdient hätte. Ich denke, dass sie wegen ihres Hintergrundes – sie kam aus einer bürgerlichen, liberalen, jüdischen Familie – im sozialistischen und gewerkschaftlichen Umfeld, sogar innerhalb der Arbeiterkammer sicher auf Wiederstand gestoßen ist. Heute wird sie gefeiert, vielleicht mehr dafür, ein Opfer zu sein, als für ihre Arbeit. Für einige ist sie schon fast zu einer Heldin geworden. Wer weiß, wie man sie behandelt hätte, hätte sie überlebt? Hier berührt mich ihre Geschichte auch persönlich. Mein Vater verbot mir zu studieren (ich wollte Kunst studieren), um zu verhindern „eine dieser Frauen zu werden“, die wie meine Mutter (sie starb als ich 4 Jahre alt war) zurückredeten. Ich studierte später (während ich schon eine Arbeit hatte), und wählte ein Studium, das es mir ermöglichte, mich und andere besser zu verteidigen. Ich habe Rechtswissenschaften studiert und erst später wurde ich bildende Künstlerin. Ohne Kunst wäre mein Leben nicht vollständig geworden. Meine Weigerung, mich zu unterwerfen, führte dazu, dass ich aus dem engsten Familienkreis ausgeschlossen wurde. Auch in meiner Familie hinterließen die Folgen des Holocausts ihre Zeichen; mein Großvater mütterlicherseits war ein Nazi und das sorgte wohl für große Spannungen zwischen ihm und meiner Mutter. Ich gleiche meiner Mutter sowohl im Aussehen wie auch im Temperament. Noch dazu bin ich in der Nähe des Nazi-Konzentrationslagers Ebensee aufgewachsen. All das hat sicher meine Sensibilität für dieses Thema geprägt. Keinen Raum zugestanden zu bekommen ist eine Thematik, die mich tief berührt. Ich versuche in meiner Kunst, Raum zu schaffen, so viel wie möglich und so gut wie möglich.
M.A.: Erinnerung, Spuren nicht verlieren, Vergangenheiten einfordern; das sind konstante Themen in deiner Arbeit.
C.M.: Sicher beeinflusste der frühe Tod meiner Mutter meine Entscheidungen sehr. Die Vergangenheit mit der Gegenwart auszusöhnen könnte in gewisser Weise ein Weg sein, den Tod zu bewältigen. Jetzt habe ich mit diesem Projekt einen “Raum” geschaffen, in dem über diese faszinierende Frau und ihre Arbeit diskutiert und nachgedacht werden soll (insbesondere ihren wissenschaftlichen Ansatz und ihre Vorstellungen von Solidarität, beides heute noch immer sehr aktuell). Vom Beginn an wusste ich, dass ich nicht darauf aus war, ein Denkmal zu schaffen. Ich wollte eher einen realen Raum schaffen, der auch zeigen soll, wie bedeutende Menschen immer Teil eines sozialen Umfeldes sind, von dem ihr Netzwerk das beste Beispiel ist. Mir gefiel auch die Vorstellung, selber so eine Art Netzwerk zu erschaffen.
M.A: Was du sicher erreicht hast. Dieses Projekt begann mit einem Geschenk einer Frau an eine andere Frau, über die Arbeit einer Frau. Du hast andere Frauen dazu aufgerufen, mit dir mitzuarbeiten. Wir sprechen jetzt darüber. Es ist eine kollektive Zelebrierung eines Frauennetzwerks.
C.M.: Käthe Leichter erschuf ein Netzwerk von 165 Frauen. Teile dieses Netzwerks sind als Autorinnen im Handbuch der Frauenarbeit angeführt, ein wirklich interessantes Buch. Ihr Ansatz war zur damaligen Zeit absolut neu. Sie kombinierte viele verschiedene Blickwinkel und verwendete praktische Erfahrungen von vielen Menschen, die auf einer ganzen Reihe von analytischen und theoretischen Ebenen operierten. Ich habe die Buchausgabe aus dem Jahre 1930 für meine Arbeit verwendet, und mit den vergilbten Seiten einen von mir entworfenen Tisch und Stuhl überzogen.
M.A.: Dieses Projekt besteht aus vielen verschiedenen Teilen. Lass uns über jeden Teil sprechen.
C.M.: Es gibt einen Tisch und einen Stuhl. Ich wollte einen “Lehrstuhl” für Käthe Leichter schaffen, wie der Name der Ausstellung zeigt; ein bequemer Platz für sie und andere Frauen, um zu studieren und zu arbeiten und gleichzeitig ein Symbol für die Professur, die sie niemals erhalten hat. Ich entwarf beide Holzobjekte und bedeckte sie mit Seiten der Originalausgabe ihres berühmten Handbuchs der Frauenarbeit in Österreich. Dieses Handbuch ist ihre wissenschaftliche Publikation, die einen bahnbrechenden Einfluss auf die heutige Sozialforschung hatte. Die Seiten sind vergilbt und zeigen Spuren des Gebrauchs sowie vergangener Zeit. Eine dünne Wachsschicht schützt sie und gibt beiden Objekten gleichzeitig eine schöne taktile Oberfläche. Ich verwendete Wachs, weil es ein natürliches Material ist, das erhält und gleichzeitig verformbar bleibt. Es erzeugt eine matte und fast “lebende” Haut, ganz anders als ein Industrielack. Weiters gibt es eine Textilarbeit, 5.5 Meter lang, die das von Käthe Leichter aufgebaute Frauennetzwerk würdigen soll. Dieses Objekt besteht aus 165 verschiedenen Materialstreifen. Jeder dieser 165 Stoffstreifen entspricht einer Frau und all diese Stoffstreifen sind zu einem Teil verarbeitet, der einen umrandenden Satinsaum in Grau hat, der Farbe von Käthe Leichters Augen. Ich habe mit der Historikerin Sabine Lichtenberger zusammengearbeitet und alle verfügbaren Quellen durchgesehen, um die Frauen ihres Netzwerks zu definieren. Ich wollte wissen, wer diese Frauen wirklich waren. Sabine Lichtenberger hat auch Leben, Arbeit und Verbindungen, die jede der 165 Frauen mit Käthe Leichter hatte, recherchiert. Eine Erklärung der Streifen und der jeweils zugeordneten Namen ist in einem handgemachten Buch angeführt, das auch Teil der Ausstellung ist. Schließlich gibt es noch sechs fotografische Arbeiten, die in Zusammenarbeit mit Geraldine Forbes entstanden sind, die 2011 die Käthe Leichter-Gastprofessur innehatte. Die Fotos wurden von mir mit einer Analogkamera und Doppelbelichtung aufgenommen. Sie dokumentieren eine Art Performance in Würdigung Käthe Leichters, in der Geraldine Forbes tatsächlich am Stuhl sitzt und am Tisch arbeitet – die Teile der Ausstellung sind - und in jenem Handbuch studiert, das den Tisch und den Stuhl bedeckt; sie vergleicht dabei auch die Stoffstreifen mit der Auflistung der Namen. Die Tatsache, dass all diese Objekte sowohl in den Fotoarbeiten, die etwas Vergangenes festhalten, als auch in der Ausstellung aufscheinen, eröffnet einen Dialog zwischen unterschiedlichen Zeitebenen. Ich glaube, dass das Verflechten von verschiedenen Bedeutungen und zeitlichen Ebenen den Prozess des Erinnerns erweitert. Erinnerung allein betrifft nur die Vergangenheit. Es ist wichtig, eine Bedingung für ein konstantes Hin- und Herpendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schaffen. Das ist auch der Grund, warum ich die Technik der Doppelbelichtung in den Fotografien gewählt habe. Wie der Philosoph Karl Jaspers sagte, “Wir sind, was wir erinnern”. Ich möchte Käthe Leichter und ihre Arbeit würdigen, indem ich einen Reflexionsprozess über sie anrege. Alle Objekte in der Ausstellung haben eine lineare Qualität, die das reflektieren, was ihre Persönlichkeit zu sein schien. Ich hoffe, dass sie diese für geeignet empfunden hätte und dass sie ihr gefallen hätten.
Übersetzung aus dem Englischen: Angelika Krawanja. Abweichungen vom Original sind Anmerkungen von C.M.
Margherita Abbozzo ist Malerin, Autorin und Lehrende in Florenz. www.margheritaabbozzo.com