Alexander Urosevic

Der Reichtum der Leere. Zu den Fotoarbeiten von Cornelia Mittendorfer

Vor uns: La Graciosa, die anmutige Insel.

 

Sie mutet an, als wäre Mut angebracht, um sie zu bewohnen. Karg, kahl, frugal. Es gibt nur einen einzigen kleinen Ort mit wenigen Straßen, niedrigen Häusern und kaum Passanten. Selbst dort, wo Menschen wohnen, bekommt man nicht viel zu sehen. Weiß gestrichene Wände, die das Sonnenlicht reflektieren; aufgespannte Netze, die Möwen vom trocknenden Fisch fernhalten; verschlossene Gesichter, die neugierige Blicke zurückweisen – alles ist auf Gegenwehr eingestellt. Vielleicht muss das Bestehende so gut geschützt werden gerade weil es so wenig ist, weil es sonst Gefahr läuft ganz zu verschwinden, sich ins Nichts aufzulösen und in die sie umgebende Leere aufzugehen, dem einzigen Gut, das auf der Insel im Überfluss vorhanden ist: dem nicht wieder befüllbaren Leergut.

 

Da vom Trinkwasser bis zum Baumaterial alles mit dem Schiff herangeschafft werden muss, hat man Strategien entwickelt, mit dem Wenigen umzugehen. Gewissermaßen aus dem Nichts und praktisch auch aus nichts zusammengestellt, tauchen höchst merkwürdige Gebilde auf, die aber in der Lage sind, auffallend viel vom Leben zu erzählen. Es sind eigenwillige Konstruktionen aus altem Mobiliar, der Einrichtung ausgedienter Schiffe und dem nach dem Löschen übriggebliebenen Verpackungsmaterial. Das aus der ganzen Welt Zusammengetragene wird gehortet, neu kombiniert und zu kunstvollen Installationen angeordnet. Das Ergebnis sind Baucollagen mit profaner Funktion: als Gartenlauben, Geräteschuppen, Wasserspeicher oder Feldzäune.

 

Dabei gehen Privates und Globales, morscher Hausrat aus dem Familienbesitz und maritimer Schrott aus fernen Kontinenten eine seltsame Beziehung ein. Die Vorderseite von Großmutters Geschirrkasten – seinerzeit ein Blickfang in der Wohnung – bildet nun zusammen mit Holzpaletten, die zum Zementtransport verwendet wurden, eine neue Wand. Das schwere Bettgestell – einst der ganze Stolz der Eheleute – verkleidet jetzt den Wasserbehälter, der vielleicht von einem japanischen Tanker stammt. Das Deckhaus von Jorge Luis` Fischkutter – was der sich damals nur darauf eingebildet hat! – wurde zur Werkzeughütte, deren Fenster teilweise mit Teekistendeckeln zugenagelt wurden.

Immer wieder bilden Türen ganze Wandfronten, wie die verwitterte Dreiergruppe, die an aufgelassene Telefonzellen oder eine nicht mehr benutzte Toilettenzeile erinnert. Womöglich sind es aber auch Umkleidekabinen eines bereits seit Jahren geschlossenen Strandbades. Oder gar ein vergessener Beichtstuhl, dessen Kirchenschiff ganz alleine davon gesegelt ist? Auch wenn es sich nur um temporäre Bauten aus Recyclingmaterial handelt, treten diese immer in einen spannenden Dialog mit der Umgebung ein. Sie fallen auf wie die Fantasieburg eines entrückten Architekten, der einer öden Vulkanlandschaft etwas Bunt-Verspieltes entgegensetzen möchte. Oder sie nehmen sich zurück wie die auf Funktion bedachten Bauhausentwürfe, die die Welt von allem Überflüssigen befreien wollten.

 

Ein eigenes Leben führen die verschieden lackierten Oberflächen mancher Baucollagen. Durch das intensive Zusammenspiel von Sonne, Salz, Wind und Wasser blättern sie derart schön ab, dass sie an abstrakte Gemälde oder rares Kartenmaterial erinnern. Versunkene oder noch nicht entdeckte Kontinente tauchen plötzlich vor einem auf und lüften allmählich das Geheimnis ihrer unerforschten Buchten, vom Rest der Welt abgeschirmten Schluchten sowie bizarren Farbenfluchten. Das Blau der Gewässer, das Grün der Gräser und das Grau der trüben Gläser fließen ohne Rast in einen Rest aus erdigem Rost, in dem sich alle Farbfelder wieder zu neuen geographischen Gegebenheiten zusammenfügen. So könnte die Erde vor der Landnahme ausgesehen haben: sich selbst und den Kräften der Erosion überlassen.

 

Eine Poesie des Verschwindens findet sich auch auf den Ansichten ausgesuchter Plätze auf der Insel, wenn auch das Verschwinden hier nur ein Verschwimmen der Konturen ist, ohne dass das Motiv dabei verloren geht. Ausgelöst wird es durch die lange Belichtungszeit der Lochkamera, während der sich jede kleine Bewegung und sogar das eigene Atmen auf die Schärfe der Aufnahmen auswirkt. Auf diese Weise entstehen Fotos, deren Auflösungsqualität an Stimmungen und Flüchtigkeit der impressionistischen Malerei erinnert. Sie sind ausschließlich den magischen Orten vorbehalten, die sich durch eine besondere Anziehungskraft auszeichnen und einen dazu verleiten, sie immer wieder aufzusuchen, ohne zu wissen, warum.

 

Vielleicht übt der ewig leere Fußballplatz eine größere Faszination aus als der volle weil er die Frage nach dem Verbleib der Spieler aufwirft. Anlagen, die für eine größere Menschenmenge gedacht worden sind, scheint eine Aura des Geheimnisvollen zu umgeben sobald man sie verlassen vorfindet, wie Ruinen. Man fragt sich, was dazu geführt hat, dass ihre Erbauer und Benutzer abhanden gekommen sind? Und selbst wenn sie dann plötzlich aus dem Nichts doch noch auftauchen – wie der Jeep, der aus einer Landschaft ohne Straßen direkt auf einen zusteuert – glaubt man sie nicht wirklich, sondern in einer Parallelwelt auf der Insel La Graciosa. 

 

Zu: The Riches of the Void, 4.-17.11.2010, Rauminhalt, 1040 Vienna